Fundstücke im Museum für Kommunikation in Berlin Berlin Seine Sammlung mit politischen DDR-Witzen landete im Feuer. Und das war gut so. Karl-Heinz Borchardt hatte die Blätter bei seiner Verhaftung in Greifswald kurz nach seinem 18. Geburtstag in einem unbeobachteten Moment aus dem Fenster werfen können.Eine Nachbarin habe die Papiere aufgesammelt und dann verbrannt, gibt der heutige Rentner zu Protokoll. Zu sehen und zu hören ist der Zeitzeuge jetzt in der
virtuellen Ausstellung "Briefe ohne Unterschrift" des Berliner Museums für Kommunikation.Die geplante Ausstellungseröffnung vor wenigen Tagen platzte wegen der Coronakrise, nun gebe es eine digitale Variante, sagt Museumschefin Anja Schaluschke. "Das ist ein spannendes Stück Ost-West-Geschichte", sagt die 52-Jährige der Deutschen Presse-Agentur.
Es geht um eine BBC-Radiosendung aus London, in der jeden Freitagabend im deutschsprachigen Programm Briefe von DDR-Bürgern vorgelesen wurden. Ungeschöntes und Kritisches aus dem Alltag in der Deutschen Demokratischen Republik wurde so öffentlich. Die Absender blieben anonym und gaben sich Phantasienamen.
Es seien auch Schreiber zitiert worden, die der DDR gegenüber positiv eingestellt waren, betont die Museumschefin. Es habe sich ein gesellschaftlicher Diskurs entwickelt, der in der DDR so nicht stattgefunden habe. "Da wurde ein Stück Demokratie zugelassen", so Schaluschke.
Den Sender erreichten laut Museum von 1949 bis 1974 mehr als 40 000 Briefe aus der DDR – verschickt über Deckadressen in West-Berlin. Moderator Austin Harrison ermunterte die Zuhörer: "Schreiben Sie uns, wo immer Sie sind, was immer Sie auf dem Herzen haben."
Auch er habe an die BBC geschrieben, sagt Karl-Heinz Borchardt. West-Fernsehen habe er nicht empfangen können in Greifswald, also habe er Radiosender gesucht. Ihn machte die Staatssicherheit ausfindig, er kam in Untersuchungshaft und wurde dann wegen "staatsfeindlicher Hetze" zu zwei Jahren Haft verurteilt.
An den Sender hatte er sich als "schreibender Schüler" nach der Niederschlagung des Prager Frühlings gewandt. Er habe seine Meinung sagen wollen und sich nicht im Propagandakrieg der Systeme missbraucht gefühlt, meint Borchardt heute.
Die Stasi habe die Sendung als Hetzsendung gegen die DDR eingestuft und mit großem Aufwand versucht, die Schreiber zu identifizieren, so das Museum. Briefe wurden abgefangen. Handschriften seien analysiert, konspirativ Speichelproben beschafft worden. Auch die BBC-Mitarbeiter gerieten in den Fokus der Stasi. Harrison wurde überwacht, ihn sah die Stasi als Agenten des britischen Geheimdienstes.
Die Berliner Ausstellung, die von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert wurde, basiert laut Museum auf dem Buch "Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte" von Susanne Schädlich. Die Autorin hatte Tausende Schreiben in einem BBC-Archiv entdeckt. In ihrem Buch wird aus einem Brief nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 zitiert: "Wenn es vor dem schon dies und das nicht gab, so gibt es jetzt überhaupt nichts mehr: keinen Pfeffer, keine Zwiebeln, keinen Reis, von Obst und Gemüse ganz zu schweigen." Ein Soldat beklagte in seinem Schreiben: "Soldaten, die gerade 1 Jahr ihren Dienst versehen, aber haben schon, auf Deutsch gesagt, die Schnauze voll. Hier hört man den ganzen Tag weiter nichts als – Erhöhung der Einsatzbereitschaft. Und das ewige Gequatsche von den kriegslüsternen westlichen Imperialisten. Ich sage Ihnen, das habe ich satt."
In der virtuellen Ausstellung sagt Schädlich, es hätten sich Lehrer, Arbeiter, Bauern, Akademiker an den Sender gewandt. Wer Kritisches loswerden wollte, habe Moderator Harrison als Freund, als Vertrauen angesehen und auch so geschrieben.
Dass die Sendung letztlich eingestellt wurde, lag aus Sicht von Schädlich an der veränderten Lage. Zum einen sei die Postkontrolle der Stasi immer ausgetüftelter geworden. Zudem seien in internationalen Verträgen quasi zwei deutsche Staaten festgeschrieben worden. Und dann schickte Großbritannien 1974 einen Botschafter in die DDR.
moz.de 04.04.2020
Museum für Kommunikation Berlin