Chemnitzer Polizeibataillon 304

Chemnitzer Polizeibataillon 304

Beitragvon Interessierter » 7. März 2016, 11:08

Ein dunkles Kapitel der sächsischen Polizei - Mit dem Fahrrad von Mord zu Mord

Vor 40 Jahren fand man bei Chemnitz ein Massengrab. Darin lagen keine NS-Opfer, sondern Täter: sächsische Polizisten, die sich eifrig am Holocaust beteiligt hatten. Die Stasi ermittelte.

Von Oliver Reinhard

Die Gegend um Rabenstein ist ein hübscher Flecken Erde. Bewaldete Hügel wechseln sich ab mit Wiesen und Feldern, es gibt eine Burg, ein Flüsschen, und wenn nicht gerade Ostwind vom nahen Karl-Marx-Stadt herüberweht, schmeckt die Luft klar und würzig. Hier will die Wismut AG 1975 ein Naherholungszentrum bauen für ihre Kumpel, die sich unter Tage die Lungen ruinieren. Am geplanten Stausee soll es liegen. Im Juni ordert die Bauleitung Bagger und Planierraupen, um den Boden zu bereiten. Die Arbeit geht gut voran, bis zum 6. jenes Monats, bis einer Raupe etwas zwischen die Ketten gerät. Knochen. Teile von menschlichen Skeletten. Reste von Wehrmachtsuniformen und Zivilkleidung.

Für die herbeigerufene Staatssicherheit scheint der Fall klar zu sein: Hier muss ein deutsches Kriegsverbrechen stattgefunden haben. Sofort beginnen die Ermittler einen Untersuchungsvorgang. Es wird einer der kürzesten in der Geschichte des MfS.

Die Gerichtsmediziner zählen mindestens 14 männliche Leichen im Alter zwischen 20 und 65 Jahren. Zwei Schädel weisen Spuren von Gewaltanwendung auf. Wahrscheinlich Kopfschüsse. Bei einem Skelett finden sich sogar Dokumente. Der Tote hieß Adam Günther, geboren am 6. Juni 1910, Polizeioffizier. So steht es auf der „Zeitweiligen Registrierkarte“ der „Militärregierung von Deutschland“. Also ausgestellt nach Kriegsende. Also kein NS-Opfer. Die Berliner Stasi-Hauptabteilung IX/11, zuständig für die Ermittlung von NS-Verbrechen, forscht nach und reagiert umgehend: Sie wünscht, „dass keine Auswertung erfolgt“. Konkret: keine weiteren Ermittlungen bitte!

„Wäre der Anfangsverdacht bekannt geworden; es wäre eine äußerst peinliche Angelegenheit gewesen“, sagt Andreas Weigelt, ein Historiker, der den Leichenfund von Rabenstein genau recherchiert hat. „Anders als die Kollegen in Karl-Marx-Stadt wusste das MfS in Berlin nämlich, dass die Menschen nicht durch Nationalsozialisten umgebracht worden waren. Sie waren im Februar 1946 durch ein Sowjetisches Militärtribunal in Chemnitz, das da noch nicht Karl-Marx-Stadt hieß, zum Tode verurteilt, an einem unbekannten Ort erschossen und dort vergraben worden.“

Es war kein Akt von Willkürjustiz. Adam Günther und seine Kameraden hatten dem Chemnitzer Polizeibataillon 304 angehört und während des Zweiten Weltkriegs im Osten Tausende Juden ermordet. Nach 1945 brachten mehrere Sowjetische Militärtribunale in Sachsen insgesamt 149 Chemnitzer Ex-Polizisten vor Gericht. Bis 1947 verhängten sie über 99 von ihnen das Todesurteil und ließen 90 hinrichten. „Damit war das Bataillon 304 unter allen Polizei-Einheiten die mit den meisten Todesurteilen überhaupt“, sagt Andreas Weigelt. Der Brandenburger Wissenschaftler hat über die Geschichte der Chemnitzer Massenmörder eine imposante Studie verfasst, unlängst veröffentlicht im Sammelband „Todesurteile sowjetischer Militärtribunale 1944 – 1947“ (Vandenhoek & Rupprecht).
Von der Forschung sind sie längst als intensive Mittäter „entdeckt“.

Doch in der breiten Öffentlichkeit ist die Rolle deutscher Polizisten während des NS-Massenmords noch weitgehend unbekannt. Sie stehen gewissermaßen im Aufmerksamkeitsschatten von SS. Gestapo und Wehrmacht. Dabei brachten vor allem Einheiten der Ordnungspolizei (Orpo) und Sicherheitspolizei (Sipo) hauptsächlich in der Sowjetunion zwischen 1941 und 1944 über eine halbe Million Menschen um. „Die meisten Angehörigen dieser Einheiten waren zunächst ganz normale Polizisten, oftmals schon viele Jahre vor dem Krieg“, erklärt Andreas Weigelt.

So wie Adam Günther. Dessen Leben nimmt zunächst einen Verlauf, der typisch ist für seine Zeit. 1929 geht der gelernte Schmied zur Polizei, tritt 1933 wie Hunderttausende Mitläufer der NSDAP bei und landet 1940 in der Weimarer Polizeiverwaltung. Nur ein Jahr später muss er seinen Schreibtisch wieder räumen: Man versetzt den 31-Jährigen im Februar zum Chemnitzer Polizeibataillon 304, das inzwischen im besetzten Warschau stationiert ist. Hier bewachen Günther und seine Kameraden Militär- und Industrieobjekte, verhaften Juden und stecken sie ins Getto. Später vor Gericht wird er sich erinnern, „dass es in Warschau eine schöne Zeit war“.

Doch die Zeiten werden blutiger. Noch im selben Jahr werden die Männer des Chemnitzer Bataillons zu Mördern ausgebildet. Eine Abordnung von ihnen lernt in einer Krakauer Kaserne den Distanzschuss von hinten und den Genickschuss. Erst in der Theorie, dann in der Anwendung an mehreren Dutzend polnischer Juden.


Ihre „Erfahrungen“ sollen die Polizisten an die Kameraden weitergeben. Dazu bekommen sie bald ausgiebig Gelegenheit. Am 13. August 1941 verlassen Adam Günther und das Polizeibataillon 304 Warschau auf Fahrrädern und ziehen fortan kreuz und quer durch den Osten, hauptsächlich in Polen und der Ukraine. Wo sie hinradeln, erschießen sie Zivilisten, Juden und gefangene Rotarmisten, requirieren Lebensmittel, brennen Dörfer nieder.
Jahre später werden viele von ihnen beteuern, sie hätten doch nur auf Befehl gehandelt und wären im Falle einer Weigerung erschossen worden. „Reine Ausreden“, stellt Andreas Weigelt klar. „Wir wissen heute ziemlich genau, wie das damals vor sich ging: Nach dem ersten Einsatz, wenn endgültig klar ist, was er zu tun hat, kann jeder Polizist sich entscheiden, ob er mitmacht oder nicht. Niemandem, der nicht will, geschieht etwas.“ Wer sich weigert, wird zum Fuhrpark abkommandiert oder in die Küche, muss bei Einsätzen zwar ebenfalls Opfer zusammentreiben, aber nicht schießen. „Die Einheiten sind da sehr flexibel organisiert“, sagt Weigelt.

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Interessierter
 

Re: Chemnitzer Polizeibataillon 304

Beitragvon augenzeuge » 7. März 2016, 19:14

Das ist doch was für Merkur. [wink]
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