Die Stasi und der geheim gehaltene Auschwitz-Prozess von Erfurt

Die Stasi und der geheim gehaltene Auschwitz-Prozess von Erfurt

Beitragvon zonenhasser » 19. August 2018, 15:54

1964 wurde ein aus der Nähe Mühlhausens stammender Traktorist als SS-Mörder verurteilt. Ein Lehrer arbeitet den Fall auf.

Erfurt. 1963 begann in Frankfurt am Main der bis dahin größte Strafprozess in der Bundesrepublik. Er ging als Auschwitz-Prozess in die Geschichte ein. Angeklagt waren 22 Angehörige der SS-Wachmannschaft des KZ Auschwitz.

Während der Frankfurter Prozess sowohl in West- wie Ostdeutschland große Aufmerksamkeit erregte, nahm die Öffentlichkeit vom zeitgleich stattfindenden Auschwitz-Prozess in Erfurt keine nennenswerte Notiz. Das freilich wäre auch kaum anders möglich gewesen. Bereits im Vorfeld hatte die für Naziverbrechen zuständige Hauptabteilung der Stasi verfügt: „Bez.-gericht Erfurt, kleiner Saal, keine Presse“.

Angeklagt war ein gewisser Hans Anhalt, der bis 1962 unbehelligt als Traktorist in Lengefeld (bei Mühlhausen) gelebt hatte. Er gestand bereits bei der Vorvernehmung, als SS-Mann in Auschwitz etwa 300 000 Juden ins Gas geschickt zu haben.

Seit Kurzem ist der Erfurter Fall nun auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich – dank Tom Fleischhauer. Der Geschichtslehrer aus Jena hat den Fall akribisch aufgearbeitet und als Aufsatz im Jahrbuch des Erfurter Geschichtsvereins publiziert. Fleischhauer konnte sich dabei auf einen umfänglichen Aktenbestand stützen, der in der Erfurter BStU-Außenstelle die Zeitläufe überdauert hat.

Auf 5028 Seiten sind die Ermittlungen der Stasi, die Vernehmung des Angeklagten und von Zeugen sowie der eigentliche Prozess dokumentiert.

Typisch für die Aufklärung von NS-Verbrechen in der DDR war, dass diese Stasi die Fälle an sich zog. Die Polizei blieb weitgehend außen vor.

Die Stasi hatte ihre Ermittlungen gegen Hans Anhalt 1961 aufgenommen. Fünf IM wurden auf ihn angesetzt. In dem eigens dafür angelegten Operativorgang „Mörder“ findet sich auch dieser Satz: „Nach Meinung der Bevölkerung ist er der zur Zeit noch lebende aktivste Nazi der Gemeinde.“ Auch Hinweise darauf, dass Anhalt immer mal wieder goldene Schmuckstücke verkauft habe, die von ermordeten Häftlingen stammen sollen, gingen ein.
„Er ist überzeugt, das Richtige getan zu haben“

Bei seiner Vorführung vor dem Haftrichter im November 1962 räumte er ein, als Wachmann in Auschwitz gedient zu haben. „Ich bestreite aber, Häftlinge zu Tode geschlagen zu haben. Auf Vorhalt: Ich bestreite darüber hinaus, überhaupt Häftlinge geschlagen zu haben.“

Mehr als ein halbes Jahr später gestand Anhalt dann doch. Er gab zu, Häftlinge ausgesondert sowie teilweise gewaltsam in die Gaskammern getrieben zu haben. 25 Häftlinge habe er erschlagen. Zehn bis 15 Juden habe er bei lebendigem Leib verbrannt. Auch soll Anhalt zehn Häftlinge während eines Todesmarsches erschossen haben. „Es sind fürchterliche Schilderungen eines von der nationalsozialistischen Ideologie Überzeugten, der kaum eine kritische Distanz zu seinem eigenen Handeln aufbaut“, kommentiert Tom Fleischhauer das Geständnis.

Der frühere Wachmann „erkennt nicht, dass ihn das bloße Ausführen von Befehlen nicht von seiner individuellen Schuld entbindet. Bis zu den letzten Befragungen ist er überzeugt, das Richtige getan zu haben.“

1964 wurde Hans Anhalt der Prozess gemacht. 55 Beobachter durften den Prozess verfolgen; die meisten waren Stasi-Mitarbeiter. Immerhin zwei Bürger aus Lengefeld waren als Zuschauer zugelassen – sowie die Kinder des Angeklagten.

Das Urteil des Bezirksgerichts lautete auf lebenslänglich. Anhalt wurde in die Strafvollzugsanstalt Brandenburg verlegt. Hier starb er 1975, angeblich an Herzversagen.  

 Doch warum wurde der Fall in der DDR geheim gehalten? Der Lehrer Tom Fleischhauer vermutet politische Gründe. Längst war das Ende der antifaschistischen Umwälzung verkündet worden. Jeder neue Prozess hätte unbequeme Fragen aufwerfen können.

Dennoch bleibt, dass bis zum Ende der DDR immer wieder Verfahren gegen Naziverbrecher angestrengt worden sind. So wurde 1969 ebenfalls in Erfurt der SS-Mann Josef Blösche zum Tode verurteilt; er starb per Genickschuss. 1972 erging in Berlin das überhaupt letzte Todesurteil gegen einen NS-Täter. 1989 wurde in Rostock ein Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt.

1990 saßen noch 23 NS-Täter ihre lebenslangen Strafen in Gefängnissen der DDR ab.

© Thüringer Allgemeine 18. August 2018
https://www.thueringer-allgemeine.de/we ... t-43638675

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Wie kann man einen Prozess versuchen geheimzuhalten? Schließlich hat das Strafrecht ja verschiedene Funktionen gegenüber der Gesellschaft. aber wenn diese gar nichts davon erfährt...
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Re: Die Stasi und der geheim gehaltene Auschwitz-Prozess von Erfurt

Beitragvon augenzeuge » 19. August 2018, 16:55

Spannend, hatte davon noch nie gehört.
Erstaunlich, dass man ihn nicht zum Tode verurteilt hat, andere hatten bei deutlich geringeren Vergehen weniger Glück.
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Re: Die Stasi und der geheim gehaltene Auschwitz-Prozess von Erfurt

Beitragvon Grenzwolf62 » 19. August 2018, 18:22

Das mit dem 1972 letztem Todesurteil in Berlin ist nicht ganz richtig, 1976 wurde ein gewisser Johannes Kinder wegen NS-Verbrechen hingerichtet.
Alles wird, vielleicht, gut.
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