1957 war es, als in Deutschland in Form des neuartigen Schlafmittels Contergan der weltweit größte Arzneimittelskandal seinen Lauf nahm.
In den Jahren 1960 und 1961 wurden in den Kliniken der Bundesrepublik immer mehr Kinder mit fehlenden oder verkrüppelten Gliedmaßen geboren. Phokomelie wurden die bizarren Missbildungen genannt, bei denen Gliedmaßen ganze Knochen fehlten und verkrüppelte Hände wie Flossen an den Schultern und Beinstummel an den Hüften angewachsen waren. Die Fehlbildungen an den Extremitäten gingen einher mit irreparablen Nervenschäden, außerdem mit Fehlbildungen an Ohren und den inneren Organen. In Münster, Hamburg, Marburg, Bonn und Kiel rätselten Forscher über die mysteriösen Kindesmissbildungen und bemühten sich den Grund für die erschreckenden Anomalien herauszufinden.
Der Hamburger Kinderarzt Widukind Lenz sollte schließlich der Ursache auf die Spur kommen. Im Juni 1961 war Lenz erstmals darauf aufmerksam geworden, dass sich die Gliedmaßenfehlbildungen bei Neugeborenen unnatürlich häuften. Der Rechtsanwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen hatte sich an den damaligen Direktor der Hamburger Universitätskinderklinik gewandt, um den Grund für die auffällige Behinderung seines Sohnes und seiner Nichte herauszufinden. Der Leiter der Klinik, Prof. Schäfer, zog Lenz zu dem Fall hinzu. Als Schulte-Hillen den Medizinern eröffnete, dass in seiner Heimat Minden die Missbildungsfälle gehäuft aufgetreten waren, war Lenz alarmiert – eine zuvor angenommene familiäre Erbkrankheit konnte also ausgeschlossen werden. Lenz begann zu recherchieren und stellte fest, dass die vorliegende Missbildungshäufigkeit die früher bei einem von 50.000 Kindern gelegen hatte, bundesweit auf dramatische ein bis zwei je 1000 Neugeborene gestiegen war.
Im Herbst des Jahres 1961 waren sich die Forscher in Deutschland zunehmend einig, dass die Fehlbildungen die unmittelbarer Beziehung zu einer eingenommen, toxischen Substanz sein mussten. Lenz begann daher, junge Mütter mit geschädigten Kindern gezielt über ihre Schwangerschaftsgewohnheiten zu befragen, dabei konzentrierte er sich besonders auf eingenommene Arzneimittel während der frühen Schwangerschaftsphase.
Anfang November 1961 fand Lenz wonach er suchte. In allen Fällen der tragischen Missbildung neugeborener Kinder hatten die werdenden Mütter während der Schwangerschaft ein neuartiges, 1954 von der Aachener Pharmafirma Grünenthal synthetisiertes und seit 1957 angebotenes Schlafmittel, zu sich genommen: Contergan. Lenz schlug sofort Alarm. Am 15. November 1961 unterrichtete er telefonisch den Forschungsleiter der Firma Grünenthal Heinrich Mückter und forderte die Rücknahme des brisanten Präparates. Das Gespräch verlief für Lenz wenig zufriedenstellend, woraufhin er in einem Einschreiben an die Firma Grünenthal seine Einschätzung des gefährlichen Arzneimittels wiederholte.
Am 19. November 1961 machte Lenz seinen Verdacht auf einem Vortrag der Vereinigung Rheinisch-Westfälischer Kinderärzte öffentlich. Am 20. November 1961 wurde Lenz von Vertretern der Firma Grünenthal in leitender Position aufgesucht, die ihm Rufmord vorwarfen und mit erheblichen juristischen Konsequenzen drohten. Noch am gleichen Tag traf sich Lenz mit Grünenthal-Vertretern in der Hamburger Gesundheitsbehörde, erneut verweigerte Grünenthal die Zurücknahme des Medikaments. Am 26. November 1961 berichtete die Welt am Sonntag über den Vortrag von Dr. Widukind Lenz – am Tag darauf zog Grünenthal Contergan aus dem Verkehr.
Vier Jahre war das Schlafmittel Contergan auf dem Markt gewesen. Eingenommen während einer Schwangerschaft konnte es – schon bei einer einzigen Tablette – zu schwerwiegenden Schädigungen am ungeborenen Leben führen. Weltweit wurden etwa 10.000 Kinder mit Missbildungen der Gliedmaßen geboren, darunter allein in Deutschland 4000 bis 5000 schwerstbehinderte Kinder, von denen 3000 überlebten. Es kam zum Strafprozess vor dem Landgericht Aachen gegen Verantwortliche der Firma Grünenthal, der Prozess wurde 1970 jedoch wegen geringer Schuld eingestellt. 1971 gründete die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit der Firma Grünenthal eine Stiftung zur finanziellen Entschädigung der Opfer. Die Verantwortlichen der Grünenthal AG wurden strafrechtlich nie belangt.
Wäre die Contergan-Katastrophe vermeidbar gewesen? Das pharmazeutische Wissen der 1950er Jahre reichte aus, um Zweifel an dem, dem Contergan-Präparat zugrunde liegenden Wirkstoff Thalidomid, aufkommen zu lassen. Nicht auf allen Märkten wurde Contergan zugelassen, es gab einige wenige Ausnahmen. In den USA verweigerte die beherzte Mitarbeiterin der Zulassungsbehörde Francis Kelsey die Genehmigung für den amerikanischen Markt, trotz des erheblichen Drucks, der auf sie ausgeübt wurde. Kelsey, die mit der Problematik der arzneilichen Stoffgruppe vertraut war, verlangte ausdrücklich Nachweise für die Unbedenklichkeit des Wirkstoffs auf die embryonale Organbildung in den ersten Wochen der Schwangerschaft. Für ihre Standhaftigkeit wurde sie später von John F. Kennedy persönlich geehrt.
quelle:
http://www.planet-wissen.de/alltag_gesu ... tergan.jsp
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