von Interessierter » 16. Oktober 2017, 15:25
„Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ v. 1.7.2007, S. 11
BLUTBAD DES TODES
Vor siebzig Jahren begann in der Sowjetunion der Große Terror. Er galt nicht nur der bolschewistischen Elite, sondern auch dem Volk.
Von Markus WEHNER*
Geschossen wurde immer auf dem Schießübungsplatz Butowo südlich von Moskau. Doch seit dem August 1937 mischten sich Schreie unter die Schüsse. Anwohner wollen gehört haben, wie Mütter um Schonung flehen ob ihrer Kinder. Und wie Männer mit brüchiger Stimme die Internationale singen. Sicher ist: Das Erschießungskommando von Butowo arbeitete gewissenhaft. Am 8. August 1937 exekutieren die Männer vom Geheimdienst NKWD die ersten 91 Gefangenen. Gut ein halbes Jahr später, am 28. Februar 1938, stellen die Henker in Butowo ihren Rekord auf: 562 Hinrichtungen an einem Tag. Die Schützen erhalten Orden für „die selbstlose Erfüllung wichtiger Regierungsaufgaben".
Butowo - das ist eine der Endstationen eines Vernichtungsfeldzuges, der vor siebzig Jahren in der Sowjetunion begann. Der Große Terror war genau geplant. Suchen Historiker im Fall des Nationalsozialismus bisher vergeblich nach dem Befehl zur „Endlösung der Judenfrage", so liegen im sowjetischen Fall die Dinge offen. STALIN, MOLOTOW und das Politbüro, die oberste Führung des Landes, befehlen am 2. Juli 1937 den Parteileitern und NKWD-Stellen in den Regionen, „alle in die Heimat zurückgekehrten Kulaken und Kriminellen zu registrieren, damit die allerschädlichsten von ihnen unverzüglich verhaftet und ... erschossen werden". Dieses Schicksal sollen viele teilen: ehemalige Mitglieder anderer Parteien, Geistliche, zaristische Offiziere und Beamte, einstige Teilnehmer an Bauernaufständen und andere „Ehemalige" - so beschreibt es der Befehl 00447 des NKWD. Die Parteiführer der Regionen schlagen auf Befehl der Zentrale vor, wie viele Menschen verhaftet werden müssen. Kategorie 1 bedeutet Erschießen, Kategorie 2 Lagerhaft von acht bis zehn Jahren. Es gelte, so der berüchtigte NKWD-Chef Nikolaj JESCHOW, „die ganze Bande antisowjetischer Elemente ohne jede geringste Schonung zu zerschlagen". Dabei sollen seine Leute rücksichtslos vorgehen: „Wenn im Laufe dieser Operation tausend Leute zu viel erschossen werden, dann ist das kein Beinbruch."
In Moskau meldet der erste Parteisekretär am 10. Juli, daß er 8500 „Kulaken und Kriminelle" erschießen und 44305 in Lager schicken wolle. Sein Name: Nikita CHRUSCHTSCHOW, der spätere Sowjetführer. Wie viele fordert er eine Erhöhung der Quoten für die Exekutionen. Im sibirischen Omsk will der dortige NKWD-Chef Grigorij GORBATSCH schon kurz nach Beginn der Operation im August 1937 mehr Volksfeinde zur Strecke bringen, „da wir inzwischen aufgrund unserer Stachanow-Arbeit 3008 Personen für die erste Kategorie verhaftet haben". So ersucht er die Moskauer Zentrale, die Zahl der zu Erschießenden heraufzusetzen, auf 5000, später auf 8000. „Genosse JESCHOW! Ich bin für die Erhöhung der Obergrenze auf achttausend“, notiert STALIN auf dem Gesuch. Die Planziffern im Wettlauf des Todes steigen von knapp 73 000 zu Erschießenden auf mehr als 380 000. In Sealinabad in Turkmenien läßt der örtliche Geheimdienstchef den Marktplatz sperren, als alle Trotzkisten und Volksfeinde aus seiner Kartei sowie die islamischen Prediger verhaftet sind. Marktbesucher werden wahllos verschleppt Am Ende hat der NKWD in Turkmenien fast 7000 Leute mehr verhaftet als von Moskau „erlaubt".
Um rasch zu Geständnissen zu kommen, quälen die NKWD-Leute die Gefangenen. STALIN selbst erlaubt im Sommer 1937 die Folter. Häftlinge werden bei Schlafentzug an die Wand gestellt, immer wieder geprügelt. Der stellvertretende Geheimdienstchef SAKOWSKIJ tritt Gefangenen in den Bauch: „So muß man sie befragen", herrscht er einen Untergebenen an. Nach der Folter sind selbst Willensstarke Häftlinge bereit, die unsinnigsten Anschuldigungen zu unterschreiben. Als die Nonne Anna MJATSCHINA sich weigert, ein falsches Geständnis zu unterzeichnen, droht der Untersuchungsführer, sie mehreren Männern „zur Schändung meiner weiblichen Ehre" auszuliefern, wie sie später berichtet. Sie unterschreibt. Oft formulierten die Geheimdienstleute die Geständnisse selbst. „Gewöhnlich wurden tagsüber die Verhörprotokolle fabriziert und den Häftlingen nachts unter Anwendung von Folter vorgelegt", erinnert sich ein NKWD-Mann aus Moskau.
Zuständig für die Urteile sind Dreierkomitees, russisch Trojki. Der Parteisekretär, der Staatsanwalt des Gebiets und der jeweilige NKWD-Chef entscheiden ohne Gerichtsverhandlung über das Schicksal der Verhafteten. Sie haken die Fälle ab, ohne die Häftlinge je gesehen zu haben. Oft werden 400 Fälle am Tag abgehandelt.
Im Sommer 1937 befiehlt das Politbüro in Moskau weitere Terrorwellen: Sie richten sich gegen „feindliche Nationen". Am Anfang stehen die Deutschen. Mitte Juli beschließen STALIN und seine Umgebung, alle Deutschen in Rüstungsbetrieben verhaften zu lassen. Die Aktion wird auf immer mehr Deutsche ausgeweitet. Der NKWD wird angewiesen, Verhaftungen „ohne belastendes Material" vorzunehmen. „Man verhaftete und erschoß ganze Familien, darunter ganz unwissende Frauen, Minderjährige und sogar Schwangere, alle führte man als Spione zur Erschießung", erinnert sich ein Moskauer NKWD-Mann an die Operation. Im Kusbass in Sibirien sind von 250 deutschen Arbeiterfamilien Ende 1937 noch 15 in Freiheit. Knapp 42 000 Deutsche werden zwischen Mitte 1937 und Herbst 1938 erschossen. Noch härter trifft es die Polen. Mehr als 111 000 verlieren in der „polnischen Operation" ihr Leben, die das Politbüro im August 1937 „gegen polnische Abweichler und Spione" in Gang setzt. Auch Finnen, Letten, Esten, Griechen und viele andere Nationen werden zu Tausenden verfolgt. Nur wenige der 350 000 Verhafteten der „nationalen Operationen" überleben. Während in der „Kulakenoperation" die Hälfte der Verhafteten erschossen wird, sind es bei den „Nationalen" fast 80 Prozent. Man habe die „fünfte Kolonne" vor dem Krieg vernichten müssen, wird MOLOTOW später sagen.
In Butowo, dem Schießplatz bei Moskau, werden an Exekutionstagen 200 oder 300, manchmal 400 Menschen erschossen. Nachts gegen ein, zwei Uhr kommen die Transportwagen. In Gruppen zu 40 oder 50 werden die Häftlinge aus dem Auto geführt, die Personalien aufgenommen, dann führt man sie zu den Gräben, die man ausgehoben hat. Die Schützen zielen aus kürzester Entfernung auf den Hinterkopf. An Erschießungstagen bekommen sie einen Eimer Wodka zur Verfügung gestellt. Auch ein Behälter mit Kölnisch Wasser steht für die Männer bereit - „denn selbst die Hunde nahmen vor ihnen Reißaus", erinnert sich ein NKWD-Mann. Abends werden die Leichen von einem Bagger mit Erde bedeckt. Erschossen werden Fünfzehnjährige und Achtzigjährige. Tausende Priester und Kirchenleute sterben unter den Kugeln des NKWD, auch Bischöfe wie der 81 Jahre alte Erzbischof NIKOLAJ von Wladimir. 1937 hatte man ihn zum vierten Mal verhaftet - nach 1918,1922 und 1925. Ähnlich erging es Zehntausenden ehemaligen Sozialdemokraten, Sozialrevolutionären und Anarchisten. Selbst vor den Häftlingen in den Lagern machte der Terror nicht halt - mindestens 30 000 Lagerinsassen werden hingerichtet.
„Wenn tausend Leute zu viel erschossen werden, dann ist das kein Beinbruch."
Mit überflüssigem „Menschenmaterial" geht die Führung skrupellos um. Anfang 1938 sitzen in Moskau und Umgebung Hunderte Invalide, Kranke und Behinderte in den Gefängnissen. Die Lagerleitungen im GULag weigern sich, diesen „Ausschuß" - Blinde, Taubstumme, Tuberkulose- und Herzkranke - aufzunehmen, da die Häftlinge arbeitsunfähig sind. Im Februar und März 1938 werden 1160 Invaliden und Behinderte in Moskau und Umgebung erschossen. In Leningrad werden 54 Taubstumme als „Verschwörergruppe" ermordet. Einer von ihnen hatte HITLER-Bildchen aus deutschen Zigarettenpackungen besessen.
Das Ende des Großen Terrors kommt Mitte November 1938. STALIN hatte den Terror stets gelenkt, selbst 362 Erschießungslisten mit rund 40 000 Namen abgezeichnet. Nun entscheidet der Sowjetführer, es sei genug. Seine Motive bleiben unklar. Vermutungen: In Moskau stapeln sich 160 000 Akten unbearbeiteter Fälle. Viele Bürger glauben den Parolen über die Volksfeinde nicht mehr. Das Wachstum der Industrieproduktion bleibt hinter den Erwartungen zurück. „Die Durchführung von Massenoperationen ist verboten", befiehlt die Zentrale nun. Die Dreierkomitees werden aufgelöst. STALIN macht den NKWD zum Sündenbock. Dessen Mitarbeiter hätten nicht auf die „Vollständigkeit und die hohe Qualität der Ermittlungen" geachtet. NKWD-Chef JESCHOW wird entlassen, später - wie Tausende seiner Leute - verhaftet und erschossen.
Binnen fünfzehn Monaten - von August 1937 bis November 1938 - sind fast 1,6 Millionen Menschen verhaftet worden. Für das Blutbad nach Quoten wurden mehr als 700 000 erschossen. Der Terror war nicht, wie bisher beschrieben, vor allem gegen die alten Bolschewiken, die Elite in Partei, Militär und Verwaltung, gerichtet. Ende 1938 liegen 21 000 Tote in den Gruben auf dem Schießplatz Butowo. Bauern und Arbeiter, kleine Angestellte - das Volk der Sowjetunion.