Am 15. April 1982, einem Donnerstag, trat der DDR-Bürger Bernhard Marquardt um elf Uhr morgens auf den Volkspolizisten vor dem Eingang der US-Botschaft in der Neustädtischen Kirchstraße zu und herrschte ihn auf Englisch an, er wolle den Sicherheitsoffizier sprechen. Der Vopo, des Englischen offenbar nicht mächtig, trat erschrocken zur Seite und hielt die Tür auf.![]()
Drinnen verlangte Marquardt nach dem Sicherheitsbeamten und erklärte: »Ich will politisches Asyl.« Als Grund gab der damals 32 Jahre alte promovierte Soziologe, Mitarbeiter der DDR-Akademie der Wissenschaften und SED-Mitglied, an, ihm passe es nicht, wie seine Regierung mit den Menschenrechten umgehe. Außerdem habe er politische Schwierigkeiten am Arbeitsplatz.
Der konsternierte Amerikaner bugsierte Marquardt erst einmal in ein abgelegenes Zimmer, nahm seine Personalien auf und ließ ihn allein. Nach sechs Stunden, eine freundliche Dame versorgte ihn mit Lektüre und belegten Brötchen, erschienen Botschafter Herbert S. Okun und dessen Stellvertreter. Man verstehe ja Marquardts Situation, aber für die Botschaft sei der Fall schwierig, ob er nicht doch lieber gehen wolle. Man könne ja später miteinander Kontakt aufnehmen, empfahl seine Exzellenz.
Marquardt lehnte ab. Die Amerikaner revanchierten sich mit einem Abendessen und wiesen dem Asylanten den fensterlosen Kinosaal als Schlafraum zu. Das Licht ließen sie brennen.
Am nächsten Morgen erhielt Marquardt Besuch von einem Beamten der Bonner Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, am Mittag erschien Bonns Ständiger Vertreter Klaus Bölling auf der Bildfläche und erklärte: »Es ist alles sehr kompliziert, aber es wird geregelt.«
Marquardt erhielt ein Zimmer samt Kochgelegenheit. Und täglich zweimal erkundigte sich Botschafter Okun persönlich nach seinem Befinden. Marquardt: »Das Wochenende verbrachte ich mit SPIEGEL-Lesen. Der Stellvertreter des Botschafters brachte mir den ganzen letzten Jahrgang.«
Marquardts Stimmung sank, als Okun ihm eröffnete, die Sache werde mindestens vier Jahre dauern.
Doch schon am sechsten Tag erschien jener Mann, ohne den im Bereich der »menschlichen Erleichterungen« nichts läuft: Wolfgang Vogel, offizieller Anwalt des DDR-Staatsrates und enger Vertrauter von SED-Chef Erich Honecker.
Vogel teilte mit, er habe die Zusicherung seiner Oberen, daß Marquardt innerhalb von sechs Monaten die DDR verlassen dürfe - unter folgenden Bedingungen: Er müsse freiwillig die Botschaft räumen, seinen Arbeitsplatz an der Akademie kündigen und aus der SED austreten.
Schwierigkeiten, so Vogel weiter, gebe es noch mit den Militärbehörden, weil Marquardt als Reserveoffizier Geheimnisträger sei. Doch auch das werde er schon hinkriegen.
Marquardt akzeptierte. Zwei Tage später, am 22. April, holte ihn Vogel mit seinem Mercedes ab. In seinem Büro in der Reiler Straße in Berlin-Friedrichsfelde telephonierte der Anwalt zunächst mit DDR-Generalstaatsanwalt Josef Streit und verlangte, der solle den Haftbefehl gegen Marquardt aufheben. Dann vergatterte er seinen Schützling, jeden Kontakt mit den Amerikanern zu unterlassen und schickte ihn nach Hause.
Die Angelegenheit nahm ihren sozialistischen Gang. Doch dann mischte sich der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke ein und machte klar, was er von Vogels humanitären Machenschaften hält: Am 20. Mai holten Mielkes Leute Marquardt aus seiner Wohnung und verfrachteten ihn in die Stasi-Zentrale an der Magdalenenstraße. Der Delinquent wurde eine Nacht verhört, dann erklärten ihm die Vernehmer, gegen ihn liege ein Haftbefehl wegen landesverräterischer
Agententätigkeit vor. Strafmaß: ein bis zehn Jahre. Neun Tage saß der angebliche Spion im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Am 29. Mai eröffneten ihm seine Wärter plötzlich, er könne gehen. Marquardt solle sich bei Vogel bedanken.
Der brachte ihn erst einmal aus der Schußlinie - und regelte dann den Rest: Ein Stasi-Wagen transportierte Marquardt zu seinen Eltern nach Wernigerode. Berlin, so wurde ihm auferlegt, dürfe er nicht mehr betreten.
Vor dem Kreisgericht Wernigerode wurde Vogels Schützling Ende Oktober pro forma der Prozeß gemacht. Die Anklage lautete auf »ungesetzliche Verbindungsaufnahme«, das Urteil auf 18 Monate mit Bewährung. Das Strafmaß hatte Verteidiger Vogel seinem Mandanten schon vorher mitgeteilt. Marquardt: »Das Gericht fragte nicht einmal, mit wem ich Verbindung aufgenommen habe. Der Staatsanwalt wußte, glaube ich, gar nicht, worum es eigentlich ging.«
Am 26. Januar 1983 durfte der Wissenschaftler schließlich ausreisen.
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